Der Menschenfänger

Kein Nachruf.

Hat er selbst Schuld auf sich geladen oder waren es seine Eltern ?““Weder noch“, antwortete Jesus.“Vielmehr soll an ihm die Macht Gottes sichtbar werden. Ich muss die Aufgaben, die mir Gott gegeben hat, erfüllen, solange es Tag ist. Bald kommt die Nacht, in der niemand mehr etwas tun kann. Doch solange ich in der Welt bin, werde ich für diese Welt das Licht sein“. (Joh. 9, 2-5)

Paul war völlig sprachlos. Das war nun wirklich selten. Sein Freund, Taufpate und Pastor Thorsten hatte am Ende seiner Sonntagspredigt gerade seinen Rücktritt bekannt gemacht. Er würde im Sommer eine Gemeinde in Süddeutschland übernehmen. Wegziehen aus der Stadt mitsamt Familie. Das erwischte Paul völlig unvorbereitet. Er spürte blitzartig einen tiefen Schmerz im Herzen. Eine große Leere. Er war nicht der einzige in der Gemeinde, der schockiert war. Aber das war kein Trost. Paul war entsetzt. Das war ein ganz schwarzer Tag. Die „Freundschaftskirche“ ohne Thorsten Matuschat war einfach unvorstellbar. Ausgerechnet der charismatische aufstrebende Stern der Gemeinde sollte ab Sommer nicht mehr da sein. Vor allem die Jüngeren, die Moderneren zog es wegen Thorsten am Sonntag in die „Freundschaftskirche“. Nicht dass die anderen Pastoren nicht auch überdurchschnittlich gut waren im Vergleich zu ihren verbeamteten Kollegen aus der Landeskirche. Aber halt auf ganz andere Weise. Dieser schlacksige, große Junge hatte zu allen in der Gemeinde einen Draht.

Nach dem Mittagessen in der Gemeinde war Paul mit seinen Freunden in seinem Garten verabredet. Er hatte Kopfschmerzen und fuhr mit seinem Fahrrad traurig nach Hause. Ihm war zum Heulen zumute, aber weinen konnte er nicht. Er musste erst mal seine Seelenlage ordnen. Er versuchte mit dem Verstand gegenzusteuern. Zu Beginn des Jahres hatte er einen Termin bei Thorsten im Büro gehabt. Paul hatte einen kurzen Fragenkatalog mitgebracht und Thorsten hatte die Gelegenheit genutzt, Paul noch mal zu lenken. Als sie aufstanden, um sich zu verabschieden, bat Thorsten Paul für ihn zu beten. Es gehe um „eine wichtige Entscheidung am nächsten Tag“ oder so ähnlich. Paul hatte gerätselt, was los war bei seinem Bruder. Dessen Erkrankung, Probleme in der Familie, berufliche Schwierigkeiten ? Paul betete sowieso regelmäßig für Thorsten. Umgedreht war das schon seit Jahren so. Paul bat seinen Jesus in der Zwiesprache des Gebets um Schutz und um Heilung für seinen Freund. Paul machte sich schon lange große Sorgen. Thorsten hatte eine üble Krankheit, die ihm immer wieder zu schaffen machte. Jetzt, ein paar Monate später war Paul klar, worum es am Jahresanfang bei dem rätselhaften Gebetsanliegen gegangen war. Ein Blick ins Internet reichte schon. Thorsten hatte genau eine Woche zuvor in der Gemeinde in Süddeutschland gepredigt und am Nachmittag war dann Gemeindevollversammlung gewesen. Das war wohl seine Antrittspredigt und Berufung gewesen, dachte Paul. Natürlich musste Thorsten das für sich behalten die ganzen Monate. Jetzt wusste er auch, warum Thorsten so wenig Zeit hatte in den letzten Wochen. Der hatte ganz bestimmt mit seinem eigenen Leben alle Hände voll zu tun gehabt. Paul schämte sich. Über seine blöden Querelen, die er immer wieder mal veranstaltet hatte. Er schämte sich dafür, dass er oft eine Belastung gewesen war für seinen Freund. Eine Nervensäge. Auf einmal ging ihm durch den Kopf, dass man diese Art von Reue spürt, wenn ein guter Freund stirbt. Die Sprachlosigkeit war es, die einen dann so schmerzte. Als sich sein bester Freund Ralf 2006 das Leben genommen hatte, war er in einer ganz ähnlichen Stimmung gewesen. Auch damals war er sprachlos gewesen und hatte sich für die Nichtigkeiten geschämt, mit denen er seinen Freund Ralf belastet hatte und dafür, dass sie nicht mehr reden konnten. Das war ja jetzt völlig anders. Sein Freund Thorsten war Gott sei Dank nicht gestorben. Nur der Abschiedsschmerz war vergleichbar. Und vielleicht, dass Paul damals einen wichtigen Halt verloren hatte und er davor jetzt ein wenig Angst hatte. Aber das war nur ein alter Reflex, das wusste Paul mit dem Verstand. Aber Herz und Verstand gehen manchmal getrennte Wege. Mit Abschieden hatte Paul immer Schwierigkeiten gehabt in seinem Leben. Paul spürte Trauer, ein bisschen Wut, ein bisschen Enttäuschung und wehrte sich dagegen. Das waren zutiefst egoistische Gefühle. Viel wichtiger war es doch, dass Thorsten sein Glück finden würde – ganz egal an welcher Stelle. Wenn man einen Menschen wirklich liebt, wünscht man sich, dass es ihm gut geht, ganz egal wo er hingeht und selbst wenn das bedeutet, dass er aus dem eigenen Leben verschwindet. Die Liebe ist das Kind der Freiheit.

Soweit kannte er Thorsten, dass er wusste, dass dieser es sich nicht leicht gemacht hatte bei einer solchen Veränderung für sich und seine Familie und mit Sicherheit lange mit sich und Gott gerungen hatte, wo sein persönlicher Weg hinführen würde. Unmittelbar nach der Predigt gingen in der Gemeinde schon irgendwelche wilden Verschwörungstheorien los. Paul wollte kein Wort von dem Getratsche hören und war nach dem Essen Richtung Fahrrad geflüchtet. Thorsten war über 40, hatte sich längst in der Prediger-Szene etabliert, hatte eine Krankheit, die ihm immer wieder zu schaffen machte, und musste sich über seine Zukunft Gedanken machen. Vielleicht wartete in Süddeutschland schlicht eine neue Herausforderung auf ihn. Ein Auftrag des Herrn. Wenn Paul wirklich ein Freund war, dann hatte er gefälligst dafür zu beten, dass es bei Thorsten in Süddeutschland gut laufen würde ab Sommer. Dieser Gedanke beruhigte ihn etwas.

Vor etwa drei Jahren war Paul mit einem alten Mann ins Gespräch gekommen. Der Mann war 92. Paul hatte noch eine Stelle der Unterhaltung besonders in Erinnerung: „Irgendwann sind alle Menschen weg, die man gekannt und geliebt hat. Mit denen man aufgewachsen ist, zusammen gearbeitet hat, gefeiert hat. Irgendwann sind alle tot und man bleibt allein zurück, wenn man so alt wird wie ich. Dann bleiben nur noch die Erinnerungen. Und Gott. Und das ist gut so“.

Paul musste sich schon länger mit seiner eigenen Vergänglichkeit auseinandersetzen. Nichts ist von Dauer. Das ganze Leben nur Momentaufnahmen. Die Begleiter auf dem Lebensweg kommen, eine Zeit lang geht man zusammen und dann trennen sich die Wege wieder. Was zurück bleibt sind nur Erinnerungen. Und manchmal Prägungen. So waren für Paul die Jahre mit Thorsten gewesen. Eine fortlaufende Prägung. Dieser Mann hatte ihm zum Glauben an Gott verholfen. Hatte ihm mit unendlicher Geduld Antworten auf seine vielen Fragen gegeben. Hatte ihn geformt.

In einem Seminar war ein Teilnehmer spitzfindig geworden mit dogmatischen Feinheiten. Thorsten hatte das kurz und knapp damit abgebügelt, dass es im Alltag eines Christen um Werte geht. Christliche Werte, an denen man sein Leben ausrichten kann, wenn man das will. Diese Werte versuchte Paul zu leben. Seine eigene Zeit der Krankheit hatte seinem Leben noch mal einen Dreh gegeben. Er konzentrierte sich mehr denn je auf das, um das es geht im Leben. Der Sinn des Daseins ist so einfach zu erklären. All die Dinge, die es bei ALDI nicht zu kaufen gibt: Liebe, Gemeinschaft, Freundschaft und vor allem Gottvertrauen.

An diesem „schwarzen“ Sonntag sprach die ganze Stadt von einem Fußballspiel. Auch Paul hatte geplant, sich das Spiel in der Kneipe gegenüber anzuschauen. Aber nach dem Gottesdienst und der Nachricht vom Weggehen seines Pastors Thorsten war ihm nicht mehr nach Jubel und Trubel zumute. Gut, dass seine Freunde in seinem Garten voller Begeisterung und Vorfreude auf den gemeinsamen Urlaub das alte Schlauchboot mit Außenbootmotor aufbauten. Paul war innerlich leer und konnte Ablenkung gut gebrauchen. Vor allem wollte er nicht allein sein an diesem schwarzen Tag. Sein Freund Markus fragte ihn: „Was steckt dahinter ? Weißt du was ?“

Nein, ich hab‘ keine Ahnung. Wirklich nicht. Ich weiß gar nichts. Da kann man nur spekulieren, aber darauf hab‘ ich gar kein Bock. Das ist alles nur Heischen im Wind. Er geht und das war’s“. Spätnachmittag waren die Freunde losgefahren. Das Boot für den Urlaub testen. Paul ging hoch in seine Wohnung. Jetzt konnte er endlich weinen und das war gut so. Der gemeinsame Weg mit Thorsten lief noch mal vor seinen Augen ab.

Es war ein trüber Novembertag gewesen im Jahre des Herrn 2009. Erst vor 5 Jahren, aber gefühlten 50 Jahren. Ein Bekannter stand damals ohne Vorwarnung sonntags vormittags vor der Tür. „Wir gehen jetzt in die Kirche zum Gottesdienst“, hatte der Bekannte sehr bestimmt gesagt. Paul dachte, der spinnt, der Typ, was soll ich denn ausgerechnet in einer Kirche ? Aber Paul war so schwermütig und ratlos damals, dass er sich nicht wehren konnte. Er hatte schon wieder wochenlang allein in seiner Wohnung gesessen. Als sie in der „Freundschaftskirche“ angekommen waren, blieb Paul dicht hinter seinem Freund. So viele Leute an einem Ort war er nicht mehr gewohnt gewesen. Er war ängstlich. Aber drinnen war es warm und draußen kalt. Als Paul den Gemeindesaal betrat, dachte er, er wäre im Kino. E-Gitarren auf der Bühne. Und die Jungs hatten was drauf. Paul liebte Gitarrenmusik. Und ein Hippie-Drummer mit Bart und Zopf am Schlagzeug. Ein Langhaariger ! Und eine blonde Frau am Synthesizer. Die hatte ein Strahlen im Gesicht und eine Hammerstimme. Das hatte gerockt. Lobpreis nannten diese Christen das. Manche hoben die Hände hoch vor Verzückung. Sehr ungewohnt für Paul, aber das war eine moderne und zeitgemäße Kirche, das spürte er gleich beim ersten Mal. Kein steifes, abgehobenes Gesülze aus der Bibel, wie Paul das bis dato kannte. In der „Freundschaftskirche“ wurde über die Themen gesprochen, die die Menschen im Alltag bewegten. Schulden, Alkoholismus, Gewalt in der Ehe, Arbeitslosigkeit, Depressionen usw. Und wie Christen das bewältigen können. Nicht nur das Problem darstellen, sondern auch eine Lösung anbieten. Das gefiel Paul. Er war in seinem ganzen Leben vielleicht 40-50 Mal in der Kirche gewesen. Zu Weihnachten, Konfirmandenunterricht. Zu Besichtigungen im Kölner Dom, Freiburger Münster oder in Rom. In diesen Kirchen gab es Orgeln und den ganzen üblichen Firlefanz, aber keine E-Gitarren !

Damals gleich beim ersten Besuch hatte Pauls Bekannter ihn diesem netten, irgendwie jugendlichen Pastor vorgestellt. Der hatte keinen Talar an, sondern einen Anzug und im Sommer Jeans und T-Shirt. Lockerer Typ. Thorsten hatte Paul freundlich angelächelt und Willkommen gesagt. „Schön, dass du heute hier bist !“ Und irgendetwas Unsichtbares hatte Paul am nächsten Sonntag wieder dahingezogen. Diese vielen Leute. Drei Gottesdienste jeden Sonntag und meistens proppevoll. Die meisten Besucher irgendwie saubere, freundliche, anständige Leute. Normale Leute, keine religiösen Spinner. Das waren genau die Leute, zu denen Paul sich Kontakt wünschte. Diese Leute hatten spirit und Paul wollte mehr davon. Mit dem netten Thorsten war er immer wieder ins Gespräch gekommen. Paul hatte noch getrunken damals, aber das störte Thorsten nicht. Dieser Mann hatte so etwas wie Menschenliebe. Ein Philanthrop. Paul hatte ihn mit etwa 1,5 Promille gefragt: „Okay, das mit eurem Gott ist kein Thema, das ist die Höhere Macht. Kenn‘ ich von den Anonymen Alkoholikern, aber was soll das mit diesem Jesus, das kapier‘ ich nicht. Eigentlich reicht es doch, wenn eine liebende Höhere Macht oder nenn‘ es meinetwegen Gott uns führt und beschützt, oder ?“ Der nette Thorsten war damals erstaunlich entspannt geblieben, hatte sich Zeit genommen, aus seinem eigenen Leben erzählt und Paul immer mal wieder etwas von Jesus erklärt. Dieser Thorsten beherrschte es meisterhaft, die Leute in der Sprache, die sie verstehen, anzusprechen und ihnen etwas zu vermitteln. Sie „mitzunehmen“, wie er das nannte. Ganz am Anfang stand für Paul das Erleben von Gemeinschaft, die Rockmusik und das Feeling Good, die Wärme, die dort herrschte. Und danach ein Teller Essen zur Mittagszeit in der Mensa der Kirche. Und Thorsten Matuschat, der Menschenfänger, der genau wie Jesus Christus ein Herz für die Sonderlinge, für die Außenseiter und Gescheiterten hatte. Ganz am Anfang hatte das Ganze noch gar nicht so viel mit dem Glauben an Gott zu tun.

Das war erst der Anfang, aber es war der Anfang von Pauls unglaublichem Weg ans Licht. Mit dem wirklich niemand mehr gerechnet hatte. Paul hatten nun wirklich alle abgeschrieben und er sich selbst auch. Er war zu oft hingefallen und im Laufe der Jahre war es immer schwerer geworden wieder aufzustehen. Nach ein paar Monaten sagte Thorsten zu Paul: „Jesus allein reicht bei dir nicht. Du musst noch mal weg“. Er meinte damit eine Therapie. Paul ließ sich zwar mittlerweile regelmäßig in der Kirche blicken, aber oft betrunken und verzweifelt. Paul kam nicht von der Stelle und das musste Thorsten gesehen haben. Paul ertrank damals nicht nur im Alkohol, sondern in seiner Schuld und Thorsten kannte einen Weg, die Schuld von Paul wegzukriegen. Paul weinte viel in dieser Zeit. Als er mal verheult und betrunken in die Kirche kam, sagte Thorsten: „Komm, lass uns runter gehen in den Gemeindesaal!“ Da knieten sie sich beide vor das große, schlichte Holzkreuz hin und beteten gemeinsam.

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Da spürte Paul schon tief in seinem Herzen, dass eine unsichtbare, intensive Macht dicht dabei war und dass vielleicht doch noch ein Wunder geschehen würde. Von einem normalen Leben war Paul damals noch planetenweit entfernt. Aber er hatte das Gefühl, dass er sich irgendwohin auf den Weg gemacht hatte. Er schöpfte Hoffnung. Einmal holte Thorsten ihn in seiner heruntergekommenen, verdreckten Wohnung ab und brachte ihn ins Krankenhaus. Das war gelebte Nächstenliebe, jedoch auch Thorstens ganz persönliche Art den Satan Sucht zu bekämpfen und das hatte auch etwas mit seiner eigenen Geschichte zu tun. Paul landete schließlich in einer christlichen Einrichtung auf dem Lande. Ora et labora. Das war eine harte Zeit, eine notwendige Stufe. Die Leute aus dieser Einrichtung besuchten sonntags natürlich einen Gottesdienst. In der näheren Umgebung gab es mindestens 300 Kirchen. Gleichwohl fuhren sie sonntags in die „Freundschaftskirche“. Das war die Kirche von Thorsten. Zufall ? Nein, Paul glaubte mittlerweile längst nicht mehr an Zufälle, sondern an eine Führung, an einen großen Regisseur, der einen Plan vorgesehen hat für jedes Menschenkind. Und so sahen sich die beiden mehr als ein halbes Jahr lang fast jeden Sonntag in der Kirche, obwohl Paul ja ansonsten auf dem Lande eingesperrt war. Thorsten war sehr wichtig geworden in Pauls Leben. An einem Sonntag fragte Thorsten Paul lächelnd: „Na, wie geht’s auf dem Acker von Anatod ?“ Anatod ??? Abends auf dem Lande blätterte Paul in der Bibel, um herauszukriegen, was es auf sich hatte mit diesem Acker. Nach ein paar Wochen war Unruhe in der christlichen Einrichtung. Der Satan war unterwegs und Paul wusste davon. Beim Gottesdienst am Sonntag ging er zu Thorsten und fragte ihn um Rat. „Du musst wieder in die Wahrheit gehen, sonst kannst du nicht zu Jesus kommen“, hatte Thorsten gesagt. Paul ging einen Tag danach in die Wahrheit und musste danach Spießrutenlaufen, aber darum ging es ja gerade. Den geraden Weg zu üben, auch wenn es weh tat und mühsam war. Tag für Tag den geraden Weg üben, wie ein Kind, das Laufen lernt. Zu Weihnachten besuchte Thorsten Paul auf dem Lande und brachte ein Geschenk mit. Paul spürte eine tiefe Liebe für diesen Menschen. Er bewunderte diesen Mann für seine Geduld und seine Aura. Thorsten wurde zu einer Lichtgestalt in Pauls Leben. Zu einem seiner vier Engel. Die beiden blieben in Kontakt. Erst recht nach Pauls Ausflug aufs Land. Mal lud Thorsten Paul zu sich nach Hause ein, mal trafen sie sich in der Stadt in einem Eiscafe. Paul erinnerte sich an den Tag, als er in der „Freundschaftskirche“ in seinem Tagebuch schreiben wollte. Er hatte zu Hause keine Ruhe dafür und wusste, dass er an seinem heiligen Ort zur Ruhe kommen würde. Aber als er um die Mittagszeit vor der Kirche stand, war abgeschlossen. Er rief Thorsten auf dem Handy an und der sagte: „Komm vorbei und hol dir den Schlüssel“. Nicht zu fassen, dieser Mann vertraute ihm den Schlüssel für die ganze Kirche an ! Das waren so kleine Schritte in Sachen Erziehung. Einem Gescheiterten einfach mal Vertrauen schenken und sehen, wie der damit umgeht. Paul lächelte jetzt traurig in sich hinein. Er erinnerte sich daran, wie aufgeregt er an diesem Tag war, dass er ja die Tür hinter sich richtig verschloss, als er wieder ‚raus ging aus der Kirche. Er wollte das Vertrauen seines Freundes auf keinen Fall enttäuschen. Paul arbeitete inzwischen in einem Büro. So eine Art Praktikum, um irgendwann beruflich wieder Fuß zu fassen. Aber der Hauptzweck dieser Beschäftigung war, dass er eine sinnvolle Beschäftigung hatte und unter Leuten war. Paul baute sich langsam, aber stetig ein soziales Netz auf. Raus aus der Isolation und zurück in das richtige Leben. Morgens aufstehen, zur Arbeit gehen, die Freizeit nutzen, um neue Bekanntschaften zu machen, soziale Kontakte knüpfen, beim „manpower“-Angrillen zum Beispiel. An den Wochenenden beim freiwilligen Baueinsatz auf der Baustelle der „Freundschaftskirche“ mitmachen. Raus aus der Dunkelheit und rein ins Licht.

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Im Sommer auf dem Gemeindefest waren Paul und Thorsten zusammen unterwegs. Nach ein paar Jahren der Enthaltsamkeit und Einsamkeit wünschte sich Paul zu dieser Zeit auch wieder eine Freundin. Er hatte sich im Internet bei einer Singlebörse angemeldet und berichtete begeistert von Dates mit Uschi und Martina. Thorsten war zwar Pastor, aber keine Spaßbremse. Er sagte sehr ernst zu Paul: „Hey Mann, das ist doch auch wieder nur Ablenkung vom Wesentlichen. Das ist jetzt noch nicht dran bei dir. Kümmer‘ dich doch erst mal darum, dass du wieder einen bezahlten Job bekommst und wieder Geld verdienst. Du bist doch auf einem guten Weg, geh` den doch jetzt einfach weiter. Versuch` doch mal wieder Kontakt mit deinen Kindern zu bekommen. Arbeite mal deine Baustellen ab. Wenn du das alles erledigt hast, wird dir Gott auch wieder eine Frau schicken!“ Das hörte Paul nicht gern. Er war erst mal bockig und trotzig wie ein kleiner Junge, aber Thorstens Stimme hatte Gewicht bei ihm. Innerhalb eines Jahres arbeitete er Thorstens Hausaufgaben einigermaßen ab. Das war ein langer steiniger Weg und es gab Rückschläge und Verirrungen. Immer wieder. Aber Paul hatte einen Weg gefunden und ging den Weg weiter. Mal schneller, mal langsamer. Über die zwei, drei Jahre schrieb Paul Thorsten zig Emails. Elend lange Texte, mal verwirrtes Zeug, mal Fragen, alles Mögliche, was ihn bewegte. Allein das Schreiben war schon wichtig für Paul. Er musste sich irgendwie mitteilen nach 5 Jahren Finsternis und Stille.

Thorsten griff immer mal wieder mit ein paar Sätzen in Pauls Leben ein, weil er sah, dass Paul sich trotz seiner vielen Charakterfehler Mühe gab, kämpfte und weil Thorsten wusste, dass der Weg ans Licht im fortgeschrittenen Alter schwierig war und es nur ganz wenige schafften, wieder trockenes, neues Land zu erreichen. In einem Gottesdienst sagte Thorsten mal zu Paul: „Du bist eine Verheißung“. Paul hatte nicht die geringste Ahnung, was das bedeutete, aber es fühlte sich gut an. Das was Thorsten über ihn dachte, war Paul immer wichtig. Seltsam irgendwie. Oft holte Paul bei Thorsten einen Rat ein und ging dann in eine ganz andere Richtung. Vielleicht wollte Paul einfach nur wissen, was Thorsten durch den Kopf ging.

Dann kam der große Tag der Taufe. Mit einem Jahr Verzögerung. Thorsten taufte Paul im Sommer in einem Baggersee. Die halbe Gemeinde, darunter auch Pauls Vater, war am Strand des Sees versammelt. Paul hatte später nur eine verschwommene Erinnerung an diesen Tag. Er war angespannt in den Wochen davor. Und dafür hatte er allen Grund. Es passierten fast täglich sonderbare Sachen in seinem Leben. So, als ob ihn irgendetwas mit Macht zurückhalten wollte. Als ob IRGENDETWAS seine Taufe um jeden Preis verhindern wollte. Davon erzählte er Thorsten. Der fand das nicht lächerlich oder abwegig. „Dem Satan geht mit deiner Bekehrung ein treuer Diener verloren“, sagte er. „Meinst du ? Bin ich nicht viel zu unwichtig ?“, erwiderte Paul. „Nein, bei dieser Auseinandersetzung geht es um jede einzelne Seele“, sagte Thorsten ernst. Am Tag der Taufe sprach ihn ein Bekannter vom Baueinsatz an, ob er mitmachen wolle in einer privaten Bibelstunde. Einmal wöchentlich in einer Privatwohnung. Das war so üblich in der „Freundschaftskirche“. Nach und nach fasste Paul mehr und mehr Fuß in der Gemeinde. Er lernte immer mehr Leute kennen. Paul lernte ein wichtiges Prinzip: Wenn du einen Finger rührst, strecken sich dir nach kurzer Zeit zehn dankbare Hände entgegen. Als er sich in der Schulferienzeit für die Kinderbetreuung meldete, war er berührt von der Freude und Begeisterung der Sechsjährigen, die ihn ein, zwei Wochen später in der Gemeinde mit einem herzlichen „Hallo“ begrüßten. Manchmal hilft Hilfe anderen; am meisten hilft das Helfen immer dem Helfer, weil sich Jesus darüber freut. Die Beziehung zu Gott ist keine Einbahnstraße. Gott braucht auch ein paar von der guten Seite auf der Erde. Sonst ändert sich nichts. Für Paul fühlte sich das alles an, als ob er endlich angekommen war. Bei Gott, in einer Gemeinschaft, bei Freunden. Nichts war perfekt in seinem Leben und nichts völlig unlösbar. Er musste keine Angst mehr haben, weil er Jesus‘ Gegenwart immer stärker spürte. Sein Leben hatte sich unglaublich zum Guten verändert und es war kein Ende in Sicht. Paul trank nicht mehr und ärgerte sich insgeheim darüber, dass er noch Zigaretten rauchte. Der Glaube an den Allmächtigen machte ihn immer freier. Es entwickelte sich langsam eine echte Beziehung zwischen Jesus und ihm. Jeden Abend vor dem Schlafen betete Paul auf den Knien zu Jesus. Er hatte Probleme im Sitzen oder Stehen zu beten. Paul musste auf die Knie, damit er nie sein Leben in der Finsternis vergessen würde, seinen Hochmut und seine Arroganz. „Jesus hörst du mich ?“, begann er sein tägliches Gebet, sein Ritual, seinen Termin bei Gott. Dann erzählte er seinem Gott alles, was er tagsüber erlebt hatte. Die kleinen Fortschritte, die vielen Fehler. Jesus wusste natürlich über alles schon genau Bescheid, aber er freute sich darüber, dass Paul ihm offen darüber berichtete. Anschließend schlief Paul ein wie ein Baby. Ausgerechnet Paul, der sein Leben lang Schlafstörungen gehabt hatte. An manchen Tagen wachte Paul morgens mit einer genialen Idee auf und wusste, von wem die kam. Jesus schreibt keine SMS. Schade eigentlich. Aber es ist nicht so, dass er nichts von sich hören lässt, wenn man Fragen hat. Mit etwas Training macht man die Augen von ganz alleine auf für die Zeichen und Wunder.

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Paul übernahm Dienste in der Gemeinde. Er wollte sich nützlich machen, sich noch fester verankern. Thorsten blieb sein Begleiter. Auch, und besonders, in ganz schweren Zeiten. Paul stand sich mit seiner Art oft selbst im Weg. Vielleicht war mehr Veränderung in kurzer Zeit in sein Leben gekommen, als er so schnell verarbeiten konnte. Als Paul zwei Jahre nach seiner Taufe schwer krank wurde und im Krankenhaus lag, war Thorsten zur Stelle. Die beiden hatten sich im Laufe der Jahre auch mal gezankt. Paul erinnerte sich an eine heftige Auseinandersetzung, wo es um Beziehungen zu Frauen ging. Der lockere Thorsten konnte bisweilen recht orthodoxe Standpunkte vertreten. Dass es nicht der rechte Weg sei, verschiedenen Frauen Hoffnungen zu machen. Dass man eine Entscheidung zu treffen habe, und dann eine Geschichte „im Sande verlaufen lassen“ solle. Paul war der Meinung, dass es im Ergebnis darauf hinausliefe, dass er gar keine weiblichen Freunde mehr haben könne, weil sich eine Frau auch ohne sein Zutun und ohne Signale in ihn verlieben könne. Das könne nicht der richtige Weg sein. Hier fanden die Freunde keinen Konsens. Pauls Doktor äußerte sich zu dem Thema: „Hoffnungen können immer entstehen, selbst dann, wenn Sie dazu gar nichts beigetragen haben. Stellen Sie sich vor, sie betreten sonntags die Kirche und eine alleinstehende Frau wirft einen Blick auf Sie. Wenn Sie nach einem Jahr mit Ihrer neuen Freundin gemeinsam den Gottesdienst besuchen, wird diese alleinstehende Frau einen Schmerz verspüren, eine Hoffnung wird enttäuscht sein. Das ist nicht zu ändern.“ Aber selbst trotz unterschiedlicher Standpunkte bei Einzelfragen war das Verbindende immer stärker als das Trennende. Und als Paul in seiner Krankheit anfing zu resignieren, war Thorsten für ihn da. Er schrieb Paul in einer Email:

Jeder muss einen Weg finden, mit seinen Enttäuschungen umzugehen. Leider machen diese Enttäuschungen auch nicht vor Gott halt. Aber vermutlich hält Gott unsere Gefühle von Enttäuschung aus, wenn er damit die Hoffnung verbinden kann, dass wir einen nächsten inneren Reifeschritt gehen…“

Paul verstand das nicht, als er es las. Erst Monate später fing er langsam an zu begreifen, was ihm sein Freund vermutlich damit sagen wollte. Auch die Tage, die wir in der Wüste verbringen müssen, sind nicht umsonst, wenn wir den Weg nur weiter gehen und nicht stehen bleiben. Die Buddhisten würden vielleicht formulieren, dass nur die Erfahrung von Elend und Leid uns letztendlich weiterbringt.

Ein paar Monate später hielt Thorsten eine kleine Rede auf Pauls Geburtstag. „Du bist mein geliebter Sohn. An dir habe ich Freude !“, zitierte Thorsten Markus 1,11. Weder bei Gott selbst, noch bei seinem begabten Diener Thorsten gab es Zufälle. Pauls Vater und seine beiden Söhne hörten zu. Paul hatte einen weiteren Vater auf einer ganz anderen Ebene gefunden und das wollte Thorsten wohl deutlich machen. Wie so oft sprach Gott an diesem Abend durch seinen Verkünder.

Jetzt, am Abend seines „schwarzen Tages“ gingen Paul Predigten von Thorsten durch den Kopf. Thorsten war nicht „nur“ Theologe. Er war belesen ohne Ende. In seinen Predigten zitierte er George Bernhard Shaw, Goethe, Karl Popper, griechische Philosophen. Ganz typisch für Intellektuelle, die sich ihre Intellektualität hart erarbeitet hatten. Dieser Mann hatte sich zäh hochgearbeitet. Eine Lehre absolviert. Das Abitur nachgeholt. Studiert. Erst Jura und dann zur Theologie gewechselt. Der Berufung gefolgt. Mit unglaublichem Einsatz, Intelligenz und Charme hatte er etwas gemacht aus seinem Leben. Dieser Mann war ehrgeizig und wollte etwas verändern mit seinem Dasein auf dieser Erde. Und er hatte Vieles bei vielen verändert. Weiß Gott nicht nur bei Paul. Paul erinnerte sich an die Predigt über das Buch Kohelet. Das war schon lange her, aber er hatte diese eindringliche Predigt vor Augen und Ohren und heulte noch mehr, weil gerade dieser Tag sehr deutlich gemacht hatte, dass wirklich nichts von Dauer ist, nichts Bestand hatte. Paul erinnerte sich an den Tag, als Thorsten völlig überraschend mit seinem kleinen Sohn vor dem Büro stand, um Paul ein Fahrrad vorbeizubringen. An das Intro einer Predigt, wo er davon berichtete, dass er von der Polizei „geblitzt“ worden war. Später ließ er ‚raus, dass er mit dem Fahrrad unterwegs war, als er „geblitzt“ wurde und erntete natürlich Lacher im Gemeindesaal. Das war eine typische Thorsten-Technik: Etwas aus seinem persönlichen Alltag an den Anfang der Predigt stellen, einen Lacher oder etwas Erstaunen aus der Gemeinde ernten und dann in ein gut vorbereitetes Thema einsteigen. Paul erinnerte sich an die Predigt über die Vergebung. Dass Gott uns unsere Schuld vergeben kann, wenn wir umkehren. „Okay“, dachte Paul damals beim Zuhören. Dass wir denen vergeben sollten, die uns Unrecht angetan haben. „Schon schwieriger“, dachte Paul damals, “aber auch irgendwie zu schaffen“. Und dass wir uns auch selbst unsere Schandtaten vergeben müssen. „Unmöglich“, dachte Paul spontan. Die beiden redeten darüber. Thorsten sagte: „Sag mal. Ist das nicht ein bisschen hochmütig und vermessen, wenn Gott dir deine Schuld vergibt und du dich weigerst ? ….wie dich selbst, steht geschrieben. Wenn sogar Gott dir deine Fehler verzeiht, solltest du erst recht selbst dazu bereit sein, oder ? Das hat etwas mit Demut zu tun. Jesus ist auch für deine Schuld gestorben“.Das war genau die Art, wie Thorsten Paul immer wieder ermutigte und voranbrachte. Nicht von oben herab, dafür liebevoll und eindringlich. Dieser Prediger ließ seinen Zuhörern selbst die Freiheit der Entscheidung, anstatt von der Kanzel Drohungen von einem strafenden Gott zu verkünden, wie Paul das als Kind von einem Priester mal kopfschüttelnd vernommen hatte. Thorsten fand im richtigen Moment die richtigen Worte. Das war seine Gabe. Er war ein Menschenfänger im besten Sinne. Jemand, der von der guten Sache zutiefst überzeugt war und der Menschen, die Orientierung suchten, für die gute Seite einfangen und begeistern wollte. Weil das gut für diese Menschen war.

All das war die Prägung, die Paul von einem, ein paar Jahre jüngeren Mann, erfahren hatte , wofür er jetzt, wo der Abschied begann, einfach nur dankbar war. Diesen Mann hatte Gott ihm geschickt, das wusste Paul schon sehr lange. Und es musste auch ein Sinn dahinter stecken, dass Gott diesen Mann woanders hinschickte.

Rosalie kam spät heim an diesem Tag und sah, dass Paul geweint hatte und traurig war. Er erklärte ihr warum. Sie hörte Paul zu und war froh, dass er seine Traurigkeit in Worte fassen konnte:

So richtige Freunde sind wir natürlich nie geworden, all die Jahre. Und Brüder im engeren Sinne erst recht nicht, aber das ist kein Drama“

Woher willst du das wissen ?“, fragte Rosalie.

Thorsten ist nicht nur Pastor. Der Mann ist auch ein fähiger Psychologe. Ich kann das beurteilen; ich habe viele Psychologen kennengelernt. Du hättest ihn mal bei der letzten Mitarbeiterschulung erleben sollen. Nonverbale Kommunikation. Das sind Themen, da musst du eingedrungen sein in die Materie, da reicht ein Zeitungsartikel oder etwas Wikipedia nicht aus. Und ein paar Monate vorher ging es um den Umgang mit Neuzugängen. Erst mal dem anderen zuhören und auf ihn eingehen, damit er sich gehört fühlt. Nicht gleich loslegen, was das Zeug hält.

Ich selbst habe ihm irgendwann mal geschrieben, dass er der Bruder ist, den ich nie gehabt habe im Leben. Der Mann ist klug. Als er das aufgeschnappt hat, wusste er, wo bei mir ein Bedürfnis ist und wo er ansetzen muss“

Was heißt hier muss ?“, hakte Rosalie nach.

Muss natürlich nicht. Sieh‘ die Welt doch mal durch die Augen eines Pastors. Ich stelle mir das so vor, dass er schlicht den Auftrag hat, das Wort des Herrn zeitgemäß zu verbreiten. Den Glauben unter die Leute bringen sozusagen. Die Mission ist der Kernauftrag, glaube ich. Bitte nicht missverstehen. Ich will gar nichts entwerten oder relativieren. Brüder im christlichen Glauben sind Thorsten und ich auf jeden Fall und ich glaube, das werden wir auch immer bleiben bis wir steinalt sind. So ist das nicht gemeint. Schau mal: Wir sind eine riesige Gemeinde. Da kommen immer wieder neue Problemfälle, wie auch ich einer war oder einfach Leute, die auf der Suche sind. Die Orientierung wird ihnen u.a. von den Pastoren vermittelt. Manche Leute sind wahrscheinlich so schnell wieder verschwunden, wie sie gekommen sind. Aber wenn so ein Pastor sieht, dass jemand ‚dran bleibt, dann hilft er ihm eine begrenzte Zeit lang, sicheres Land unter den Füssen zu erreichen. Nach einer gewissen Zeit kann der Pastor den Problemfall an die Gemeinde abgeben, weil er dann kein Akutpatient mehr ist. Die Gemeinde ist groß und stark. Die trägt den ehemaligen Pflegefall dann. Jeder Pastor hat nur begrenzte Kapazitäten, er kann sich nicht zerreißen. Thorsten hat eine Frau und kleine Kinder. Der Mann hat eine Krankheit und der Tag nur 24 Stunden. Du siehst doch, was bei mir los ist in den letzten 6 Monaten. Meine „Schützlinge“ kosten mich auch viel Zeit und Energie. Denk doch mal an den kleinen Micha, den Daniel im Knast, den jungen Afrikaner oder auch Herrn Licht. Mir hat Thorsten mal nach dem Mund geredet, mich getröstet, mich aufgebaut und ermutigt. Und dann wieder einen Einlauf verpasst, wenn es dringend nötig war. Zuckerbrot und Peitsche, könnte man flapsig sagen. Ich finde, dass hat er ganz hervorragend gemacht die letzten Jahre. Aber Freunde ?…“

Aber warum denn nicht, verdammt nochmal ? Das ist doch schon wieder dein Kopfkino. Kannst du das nicht einfach mal annehmen, dass einer sagt, er ist dein Freund und gut ist es ? Musst du immer tausend Gründe suchen, warum niemand dein Freund sein will ? Schau doch mal genau hin. Deine Jungs aus deiner Gang rufen dauernd an, deine Truppe aus dem Bibelkreis hat den ganzen letzten Sommer für dich gebetet. Die große Blonde freut sich am Sonntag, wenn du da bist. Dein Vater ist stolz auf dich, auch wenn er das nicht sagen kann und ich … ich liebe dich so wie du bist. Wann wirst du es endlich lernen, dich mal selbst ein bisschen nett zu finden ?

Rosalie war in Rage.

Okay, ist ja gut. Es gibt ja nicht nur schwarz oder weiss, sondern auch viele Grautöne dazwischen. Vielleicht war ich für Thorsten irgendetwas zwischen einem Schaf aus der großen Herde und einem Freund. Aber schau doch mal: So wie jeder andere auch hat der Mann ein Privatleben mit über Jahre gewachsenen Freundschaften. Ich hab‘ das mal miterlebt, als ein Paar aus seinem Bibelkreis sich nach Afrika auf Mission verabschiedet hat. Da hat er während der Predigt auf einmal geheult wie ein Schlosshund, weil er traurig war und wusste, dass er die beiden vermissen würde. Genau so wie es mir heute geht. Weißt du, ich glaube der Auftrag, der für mich mit dem Abschied entsteht, ist recht eindeutig. Dass, was Thorsten mit mir gemacht hat, dass soll ich jetzt mit anderen machen. Mein Jesus ist offenbar der Meinung, dass ich soweit bin, die Botschaft weiterzutragen. Natürlich in einer ganz anderen Liga, aber das ist egal. Jeder auf seine Weise. Das reicht schon. Und damit angefangen hab‘ ich doch schon. Das ist doch tröstlich oder nicht ?“

Rosalie nahm Paul in den Arm und küsste ihn aufs Ohr. Den Rest des Abend schauten sie noch ein bisschen Fernsehen, aber Paul dachte weiter nach und kriegte nichts mit von dem Spielfilm. Kurz vor Mitternacht schaute Paul neben sich und sah, dass Rosalie eingeschlafen war. Er stubste sie. „Schatz, wir sollten nicht vorm Fernseher schlafen, Lass‘ uns rüber gehen und im Bett schlafen. Wir müssen morgen früh raus“ Rosalie gähnte und folgte ihm ins Schlafzimmer. Als das Licht schon aus war sagte Paul: „Jetzt habe ich wieder Frieden. Ich habe Jesus gefragt, was er davon hält. Es sind mittlerweile auch bei mir zwei Kreise vorhanden, genau wie bei Thorsten. Das ist mir auch heute aufgefallen. Der eine Kreis umfasst meine Mandanten, meine Betreuten, meine Schützlingen, die Besucher der Gemeinde. Bei all diesen Menschen mache ich mich irgendwie nützlich und das gibt meinem Leben einen Sinn. Und daneben gibt es noch einen zweiten Kreis. Das ist mein Privatleben. Meine Freunde, meine Familie, meine Bekannten und du natürlich. Es ist total verschwendete Energie darüber nachzugrübeln, ob Thorsten und ich Freunde sind, Brüder oder sonst was. Das ist unwichtig. In meinem Alltag spielt er keine große Rolle und ich in seinem auch nicht. Sein bleibendes Verdienst besteht darin, dass ich heute nach 5 Jahren Wegstrecke überhaupt wieder richtige Freunde in meinem Alltagsleben habe und die waren heute da. Dass ich wieder ein sinnvolles Leben führe, wieder ein Lieblingsmensch an meiner Seite schläft. Dazu hat er mir wie kein anderer verholfen. Jetzt schließen sich die Kreise.Thorsten hat das ermöglicht, dass ich jetzt so leben darf. Als Thorsten und ich uns über den Weg gelaufen sind, war nur Wüste in meinem Leben und jetzt, nach nur 5 Jahren blüht der Weizen auf dem Feld. Halleluja ! Gelobt sei unser Herr ! In Koh 3,5 ist vom Umarmen und Loslassen die Rede…..“

Am nächsten Tag nahm sich Paul eine „Auszeit“ im Büro und schrieb seine Gedanken über den Weg mit Thorsten auf. Das war seine Art geworden, Seelenballast zu verarbeiten. Wieder ins Reine zu kommen. Loszulassen. Dabei beschäftigte sich Paul mit dem Menschenkind Thorsten und mit dem Menschenfänger Thorsten. Das Menschenkind, dass er kennen gelernt hatte, war höchst menschlich. Manchmal launisch, verletzlich, nachdenklich und manchmal schwermütig. Anders als der Menschenfänger hatte das Menschenkind auch hin und wieder Selbstzweifel und suchte Orientierung, war gar nicht so sehr von sich und der Welt überzeugt. Das Menschenkind wunderte sich bestimmt oft über die Verehrung, die dem Menschenfänger entgegengebracht wurde und dachte still bei sich: „Wenn die wüssten ….“

Am übernächsten Tag klingelte das Telefon. Paul war von den Socken. Thorsten war am Apparat. Als ob Jesus höchstpersönlich eine Verbindung geschaltet hätte. Die beiden Freunde hatten lange nicht mehr telefoniert oder gesprochen und ausgerechnet nachdem sich Paul sehr intensiv mit Thorsten beschäftigt hatte, rief er an. Paul lächelte in sich hinein. Thorsten bat um Verständnis dafür, dass er seinen Abschied aus der Gemeinde für sich behalten hatte. Das konnte Paul gut nachvollziehen. Das hätte jeder so gemacht. Das war völlig okay so. Paul redete wieder zu viel. Das war besonders gegenüber Thorsten eine Unart, weil Paul Thorsten immer viel zu sagen hatte. Das brauchte wohl noch Zeit, dass sich das ändert….

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Mach’s gut mein Bruder ! Ich werde dich vermissen ! Gott segne und behüte dich, wo immer dich dein Weg auch hinführen mag ! Erfülle du deine Aufgaben, solange es Tag ist !

(aus: Morgenluft © The sky is the limit – Verlag 08.04.2014 All rights reserved. Nachdruck nur mit Genehmigung des Autors. Der Menschenfänger (DER SPIEGEL 07/2008))

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